|
Die Freinet's
in deutscher Übersetzung
|
Die
"Schwätzer"
In unseren Dörfern gibt es die "Schwätzer" und die "Schaffer", die Redner und die Arbeiter. Der Arbeiter arbeitet zunächst. Während seiner Arbeit und durch sie überlegt, lernt, urteilt, fühlt und liebt er. Der "Schwätzer" redet zunächst. Die Überlegenheit, die der Arbeiter aus seiner Findigkeit und Zähigkeit gewinnt, zieht er, der "Schwätzer", vorgeblich aus seiner Geschicklichkeit, mit Wörtern umzugehen und Systeme nach einem Wirrwarr von Regeln und Theorien zu ordnen, deren Hohepriester er ist. Das nennt er dann anspruchsvolle "Logik" und "Philosophie". Sie lernen Fahrrad fahren wie alle Fahrrad fahren lernen. Die "Schwätzer" werden Sie über ihren Irrtum aufklären: vorher muß man doch - nicht wahr - die Regeln des Gleichgewichts und die Anforderungen der Mechanik kennen! Die "Schwätzer" können aber gar nicht Fahrrad fahren! Wenn sie es wagten, würden sie Ihnen beweisen, daß Sie Unrecht haben, ihr Baby so unwissenschaftlich daherreden zu lassen, und sie würden sie den lieben langen Tag mit den unwiderlegbaren Gesetzen der richtigen Sprache traktieren. Aber ihre Kinder wären stumm! Eben jene Schwätzer haben uns eingeredet, es sei notwendig, das Erlernen des schriftlichen Ausdrucks mit dem methodischen Studium der Grammatik anzufangen und Schritt für Schritt vorzugehen: vom Wort zum Satz, vom Satz zum Abschnitt und dann zum vollständigen Text. Sie kennen die Grammatik, aber die Gabe, fesselnd und lebendig zu schreiben, haben sie verloren. Mit einer Schamlosigkeit, die höchstens noch von unserer Leichtgläubigkeit übertroffen wird, sprechen sie auch zu uns über die Vorzüge der Landarbeit und die bukolischen Reize der Arbeit auf den Feldern. Denn ihre Rolle ist es nicht zu arbeiten, sondern zu reden. Vor einem mucksmäuschen stillen Saal erklären sie mit Wissenschaft und Logik, wie man auf dem Land zu arbeiten hätte und was uns die frisch aufgeworfenen Erdschollen sagen oder die Trauerweiden, die im Herbst goldene Tränen aus ihren bewegten Blättern weinten. Sie aber können gar nicht arbeiten! Meinem Lehrling auf dem Land habe ich nichts zu sagen, außer wenigen wichtigen Worten, die im geeigneten Zeitpunkt ihm praktische Ratschläge oder Handgriffe vermitteln - oder auch sehr persönliche Gefühle, die sich über eine Bewegung, einen Blick oder Schweigen vermitteln. Aber dieser Philosophie der Weisen, die der Gipfel der Wissenschaft, der Logik und der Arbeit sein soll, wird er mit einem Achselzucken begegnen. Und er kann arbeiten! Text aus: J. Hering u W. Hövel (Hrsg): Immer
noch der Zeit voraus, 19961, Bremen
|