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Schuldruckerei

  • Forum Freinet - Schuldruckerei

  • Die Kolumne

    10/2013

    Schuldruckerei heute?

    Da hat Michael Ritter, Juniorprofessor an der Uni in Bielefeld eine Freinet-Druckerei eingerichtet - ein Anachronismus in der heutigen Zeit der Smartphones, Tablets und Notebooks?

    Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Schuldruckerei beileibe kein Überbleibsel aus der längst vergangenen Zeit der Reformpädagogik ist. Cristina Müller hat vor gut einem Jahr mit einer dritten Grundschulklasse in drei Monaten ein Buch über Fledermäuse gedruckt: 'Müller, Cristina (2012): Auf den Spuren Célestin Freinets - Eine Untersuchung über den Einsatz der Schuldruckerei in der Grundschule von heute.'
    (Volltext)

    Die Neue Osnabrücker Zeitung schrieb:

      "Ganz anders sieht das Stimmungsbild jedoch aus, wenn man sie gemeinsam ein Buch schreiben lässt, sie es dann von Hand mit Lettern setzen und mit dicken Druckwalzen über die Buchstaben rollen dürfen. Dann sind die Acht- und Neun-jährigen nämlich in ihrem Element: Sie haben alles selbst in der Hand, organisie-ren die Arbeitsteilung und haben etwas im Blick: ihr eigenes Buch." (Stefanie Hiekmann, NOZ, 20.3.2012)
      NOZ

    Wichtige Kompetenzen wie Teamarbeit, Arbeitsorganisation, aber auch Rechtschreibung werden nebenbei erlernt - learning by doing. Ganz ohne extra Arbeitsblatt, spezielle Übephasen und Klassenarbeit. Wichtigstes Moment: Die Kinder haben 'alles selbst in der Hand'. Sie müssen nicht den Vorgaben einer LehrerIn folgen, müssen nicht Aufgaben aberledigen, die schon vorgedacht sind und von denen eh schon klar ist, was dabei herauskommt. Die Kette von nach-erfinden, nach-erforschen, ... ist durchbrochen und die Kinder erfinden selbst, erforschen selbst ..., was ihnen wichtig ist. Und wenn sie ihr Ziel haben, wenn sie selbst 'etwas im Blick' haben, muss man ihnen nicht auch immer wieder Druck machen, doch aufzupassen und auf das zu hören, was die LehrerIn sagt. Die Kinder übernehmen selbst die Verantwortung für das, was sie 'im Blick' haben und die LehrerInnen sind davon befreit, die Lernpolizei zu spielen.

    Genau das ist aber die Situation die Cristiane Müller in ihrer Masterarbeit beschreibt: "Sie haben alles selbst in der Hand, organisieren die Arbeitsteilung für ihr Ziel: ihr eigenes Buch." Da braucht es keine Belehrung mehr. Was diese Art des Lernens allerdings braucht, ist jede Menge Unterstützung, ganz viel Hilfe zur Selbsthilfe. Nicht Kindern alle Steine aus dem Weg räumen und noch mehr didaktische Reduktion. Kinder brauchen Hilfe dabei, die Steine nicht als unüberwindliches Hindernis zu erleben, sondern selbst zu erleben, wie man aktiv diese Hindernisse überwindet und seinen Weg aus eigener Kraft fortsetzen kann - auch wenn da neue Steine liegen. Sie brauchen Hilfe dabei, ihr eigenes Vorhaben voran zu bringen, ohne dass es ihnen aus der Hand genommen wird, ohne dass ihnen gleichsam nebenbei etwas anderes - z.B. das, was besser zum Lehrplan passt - übergestülpt wird. Das rechte Maß der angemessenen erklärenden Information über das vom Kind gezeigte Interesse hinaus beschrieb der Reformpädagoge Berthold Otto:

      "Am 23. April 1906 gab ich 17 Schülern die erste Stunde Gesamtunterricht, die für meine Kinder nichts anderes was, als Fortsetzung unserer Tischgespräche." (Brenner, Dietrich (2009): Berthold Otto und seine Hauslehrerschule. S. 18
      Brenner)

    Anders ausgedrückt: Wenn das Interesse der Kinder nachlässt, sollten auch die Erklärungen beendet werden - selbst dann, wenn es noch viel zu sagen gäbe.

    Der Vorgang des Druckens ist schnell erlernbar - das bestätigt auch die Einschätzung von Michael Ritter. Er setzt 4 Stunden an, um mit einer Gruppe ein Buch zu erstellen, inklusive der Texterstellung. Cristine Müller hat drei Monate mit den Kindern gearbeitet.

    Der Unterschied liegt aber nicht in dem Erlernen des Druckens und der Buchherstellung, sondern ist durch das Vorhaben selbst bedingt. Die Informationen - bei Christine waren es Fledermäuse, müssen ja erst zusammengesucht werden. Texte müssen gelesen und verarbeitet werden, Bilder und Darstellungen gefunden werden. Es muss ein 'roter Faden' entwickelt werden und die zusammengetragenen Informationen müssen an diesem 'roten Faden' einen Platz zugewiesen bekommen. Ein Buch ist mehr als nur eine Ansammlung von Texten und Bildern. Die Vorgaben der Lehrerin erweisen sich als sehr hilfreich, sie wirken einer Textflut entgegen und zwingen die Kinder, sich kurz zu fassen, sich auf Wichtiges zu beschränken. Das erinnert an Christian Schreger aus Wien. Er arbeitet mit MigrantInnen und hat bei seinem Projekt 'Kleine Bücher' mit der Vorgabe gearbeitet: 5 Texte, 5 Bilder, 1 Umschlag. Er führt aus:
      "Der überschaubare Arbeitsaufwand macht Mut sich darauf [auf das Projekt, jg] einzulassen. [...] Das Projekt bietet durch seine klaren Richtlinien eine einfache Einstiegsmöglichkeit in den Sprachlernprozess - unabhängig von der Erstsprache. Eine Stärkung des Selbstbewusstseins der AutorInnen findet statt und die Motivation, sich weiter auf Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache einzulassen. Beispielwirkung für Kinder, die den Schritt aus der schweigenden Beobachtung hin zur aktiven sprachlichen Teilnahme noch nicht gefunden haben."
      (Schreger, Christian (2009): Portfolio 2009/10 | M2 VS Ortnergasse 4, 1150 Wien | Projekt kleine Bücher:
      Projekte M2 - Ortnergasse)

    Die Schüler müssen also gezwungener Maßen darüber miteinander diskutieren, wie der knappe Platz genutzt wird. Und es ist nicht die LehrerIn, die die Endredaktion übernimmt und bestimmt, was stehen bleiben kann und was gestrichen wird. Leider beschränkt sich die von Cristina Müller vorgelegte Arbeit auf den Druck und geht nur wenig auf die Textproduktion selbst ein.

    Es besteht auch ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Klassenarbeit am Ende einer Unterrichtsreihe über Fledermäuse, die dann, mit einer Note versehen, zu Hause vorgezeigt werden muss und einem präsentablen Buch, an dem die SchülerInnen selbst inhaltlich und in der Herstellung mitgearbeitet haben und über das auch noch in der Zeitung berichtet wird. Die Aufmerksamkeit der außerschulischen Betrachter richtet sich nicht auf die Note, sondern auf das Produkt, das entstanden ist. Darüber geht oft unter, dass die Texte und Bilder keine Reproduktionen von LehrerInnenvorgaben sind, wie die Antworten in der Klassenarbeit.

    "Die Schüler verfassten sie [die Texte, jg] mit eigenen Worten, fügten Passagen sinnhaft zusammen oder exzerpierten schwierige Informationen. Hier stellte sich bereits der Lerneffekt ein, dass die Kinder die Informationen verinnerlichten, sie wiedergaben und sich intensiv mit dem Thema auseinander setzten. Parallel dazu wurden sie kreativ, indem sie ihre Texte über Fledermäuse selbst verfassten und trotz der Themenvorgabe wurde den Schülern in ihrer Ausdrucks- und Schreibweise weitgehend Freiraum geboten. Das Scheiben ist eine weitere Tätigkeit, die positiv verstärkt wird. Viele Schüler, die ungern schreiben, wurden durch das gemeinsame Projekt bestärkt und motiviert, sich schriftlich auszudrücken. Alle Schüler waren aufeinander angewiesen, um ihr Fledermausbuch am Ende des Projekts in den Händen halten zu können. Sie mussten Teamgeist und Zusammenhalt sowie Hilfsbereitschaft leisten. [...] Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel, welches sie mit Hilfe unterschiedlicher Methoden erreichen wollen. Jedem Schüler soll die Möglichkeit geboten werden, sich individuell zu entwickeln und eine Arbeit auf seine Art und Weise zu lernen. Nicht jeder Schüler lernt dasselbe, sondern jeder ist Experte auf seinem Fledermausgebiet und somit können Informationen unter den Experten ausgetauscht werden. Es findet [echte, jg] Kommunikation statt." (Müller, Cristina (2012), S. 50f)

    'Echte' Kommunikation soll von der üblichen schulischen Kommunikation unterscheiden, in der Fragen nicht gestellt werden, um als Antwort zu erfahren, was man vorher noch nicht wusste, sondern um zu überprüfen, ob die SchülerIn eine 'richtige' Antwort geben kann: LehrerIn: "Wie spät ist es?" SchülerIn: "10 nach drei." LehrerIn: "Nein, schau doch noch mal genau hin und antworte dann in einem ganzen Satz! Wo steht der kleine Zeiger?" SchülerIn: "Ach ja, es ist 10 Minuten nach 4 Uhr." LehrerIn: "Ja, richtig!". Dagegen ist die Diskussion um den Text, der bei der Spitzmausfledermaus stehen soll ein wirklicher Meinungsaustausch, vielleicht auch ein Machtgerangel, wer seinen Text durchsetzen kann.

    Trotz der unterschiedlichen Absichten - beide Druck-Anlässe sind nicht selbstverständliche Elemente des regulären Unterrichts. Bei Célestin Freinet war die Druckerei fester Bestandteil des Klassenraums und die SchülerInnen konnten jederzeit ihre Texte drucken - incl. der Vor- und Nacharbeiten für den Betrieb der Druckerei. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass der laufende Unterricht bei Célestin Freinet deutlich weniger von den 7-G's beherrscht wurde: 'Alle machen zur gleichen Zeit, in den gleichen Lernschritten ...'

    Die oben angesprochenen möglichen Lernerfolge lassen sich wahrscheinlich auch nicht durch solche einmaligen 'Highlights' im Unterricht erzielen. Die Arbeit an eigenen 'Freien Texten, der 'Freie Ausdruck' müsste einen ganz anderen Stellenwert im Unterricht haben, viel häufiger auftauchen. 'Past & Copy' ist nicht nur ein Zeichen von Faulheit und Bequemlichkeit sondern auch die Konsequenz aus der Nicht-Beachtung von dem, was Schüler sagen. Es wird zumeist nur dem Beachtung geschenkt, was sie - mündlich oder schriftlich - auf Lehrerfragen antworten, wenn sie ihr Wissen reproduzieren. Da liegt es doch nur nahe, einen nicht selbst produzierten Text abzugeben.

    Die Produktion von 'Freien Texten' und der 'Freie Ausdruck' hingegen kultivieren die Wertschätzung dessen, was SchülerInnen in ihren Worten sagen. Dadurch, dass diese Texte der Klasse vorgestellt, besprochen und schließlich mit mehreren SchülerInnen gedruckt werden, sind die Texte mehrfach überarbeitet worden, 'Geschwurbel' hat sich in verständliche Passagen gewandelt, Schreibfehler sind ausgemerzt. Freie Texte, die von der Klassengemeinschaft honoriert werden, entfalten eine viel kraftvollere Rückwirkung auf den Autor als eine Note, die ja letztlich vom Inhalt ablenkt und 'nur' als Baustein für den Lernerfolg gesehen wird. Der Inhalt ist hier ja auch tatsächlich nebensächlich. Es handelt sich ja 'nur' um reproduziertes Wissen zu Lehrerfragen. Genauer: darum, ob das, was da reproduziert wird, die Erwartung der LehrerIn erfüllt. Dieser Vergleich lässt sich natürlich leicht feststellen und dann auch in Noten ausdrücken.

    Auch der ganze Kontext ist ein ganz anderer. Auf der einen Seite wird Teamarbeit, Konzentration - nicht um der Konzentration willen, sondern als notwendige Eigenschaft bei der Erstellung von Drucken - Rechtschreibung, Gefühl für selbst erstellte Texte, die Fähigkeit eigene Gedanken für andere verständlich zu formulieren, Verlässlichkeit, die Einsicht in verschiedene Erfordernisse des Arbeitsablaufes - vom Druckerkittel über das Säubern der Lettern von Farbresten bis zum richtigen Wiedereinsortieren auch von b und d in den Setzkasten, Zuhören, das Verändern der eigenen Meinung, ... (die Aufzählung ist nicht abschließend). Auf der anderen Seite die Konkurrenz um die 'richtige' Reproduktion von Wissen, bestenfalls noch Transferfragen, die abprüfen, ob das, was gelernt werden sollte auch auf andere Situationen angewendet werden kann. Die Antworten sind der LehrerIn schon bekannt: 'Richtig!' Genauer: die Überprüfung, ob die gegebenen Antworten der Erwartung bzw. der Anforderung der LehrerIn entsprechen. Der individuelle Lernfortschritt kann aber mit den traditionellen Methoden der Leistungsüberprüfung in der Klasse gar nicht erfasst werden und fließt demzufolge nicht oder nur korrigierend in die Mittelwertbildung - aus den schriftlichen und mündlichen - Noten ein.

    Diese Kritik erheben auch Schüler.

      "Nicht zufrieden waren die Schüler/innen mit den traditionellen Formen der Prüfungen. Selbstbewusst schätzten einige von ihnen ihr selbst erworbenes Wissen als umfassender und tiefer ein, als es von ihnen in der Leistungsüberprüfung gefordert wurde."
      (Kyburz-Graber, Regula (2008): Offener Unterricht am Gymnasium: Hindernisse und Chancen eines partizipativen Unterrichskonzepts, in: Aregger, Kurt/Weibel, Eva-Maria (Hrsg.): Entwicklung der Person durch offenen Unterricht, 2008, Augsburg)

    Es kann also zu Recht vermutet werden, dass die traditionelle Leistungsüberprüfung in einem Unterricht, der von selbständigem Lernen geprägt ist, nur einen kleinen Teil des tatsächlichen Wissens und Könnens von SchülerInnen abprüft. Oder schlimmer noch, SchülerInnen beschränken sich im traditionellen Unterricht zumeist darauf, nur das zu lernen, was in der Überprüfung gefragt werden könnte. Motto: 'So gut wie nötig, ein Restrisiko muss in Kauf genommen werden.'

    Es gilt - nicht nur am Gymnasium - die Überzeugung: "Ein festes Set von vermitteltem und reproduzierbarem Wissen garantiert Hochschulreife und Studierfähigkeit" (Kyburg-Graber, ebenda, S. 171) bzw. den Schulerfolg. Diese Überzeugung hegen nicht nur konservative ältere LehrerInnen, sondern sie ist auch breit und tief im gesellschaftlichem Denken verankert (Vgl. ebenda), weil kaum jemand sich Unterricht anderes vorstellen kann, wie er in der eigenen Jugend war und auch heute an vielen Schulen immer noch ist. Schulen müssten also nicht nur selbst in ihrem Unterricht mit ihren SchülerInnen das selbstverantwortliche Lernen mehr praktizieren, sondern auch offensiv in der Elternschaft und in der …ffentlichkeit für dieses Lernen und für den dafür veränderten Unterricht werben und aufklärend tätig werden.
    Jürgen Göndör
    E-Mail: service@paed.com | Homepage: freinet.paed.com | Schuldruck: Schuldruck

    Literatur:

    • Brenner, Dietrich (2009): Berthold Otto und seine Hauslehrerschule. Brenner (Aufgerufen am 29.9.2013)

    • Hiekmann, Stefanie (2012): Osnabrücker Studentin verfasst Masterarbeit über Druckwerkstatt, in Neue Osnabrücker Zeitung vom 20.3.2012
      NOZ (Aufgerufen am 29.9.2013)

    • Kyburz-Graber, Regula (2008): Offener Unterricht am Gymnasium: Hindernisse und Chancen eines partizipativen Unterrichskonzepts, in: Aregger, Kurt/Weibel, Eva-Maria (Hrsg.): Entwicklung der Person durch offenen Unterricht, 2008, Augsburg

    • Müller, Cristina (2012): Auf den Spuren Célestin Freinets - Eine Untersuchung über den Einsatz der Schuldruckerei in der Grundschule von heute. Internetveröffentlichung bei freinet.paed.com
      (Volltext) (Aufgerufen am 29.9.2013)

    • Schreger, Christian (2009): Portfolio 2009/10 | M2 VS Ortnergasse 4, 1150 Wien | Projekt kleine Bücher:
      kleine Bücher (Aufgerufen am 29.9.2013)

    Kolumne - Archiv: 7.2012 - 8.2012 - 9.2012 - 10.2013


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