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Geschrieben von Jule am 12.10.2007 um 16:56:

Disziplinierung

Hallo Jürgen - und alle Anderen,

Wie sieht es (bei Euch) im Offenen Unterricht mit Disziplinierungen aus? Fällt das ganz weg? Regelt sich das bei Euch über die Selbstregulierung der Schüler?

fragt
mit lieben Gruß

Jule


Geschrieben von Chris McFaz am 29.10.2007 um 11:32:

konsequent sein

Hallo Jule!

Also, im Moment arbeite ich an einer Schule, an der es Konsens ist, dass Kinder für Fehlverhalten auch Konsequenzen erfahren müssen. Leider wird das Wort Konsequenz häufig falsch verwendet, so das man eigentlich Strafe meint, obwohl man Konsequenz sagt. Bei uns ist es also im Moment so, dass Kinder erst eine gelbe, beim zweiten "Vergehen" eine rote Karte erhalten. Bei Rot gibt es einen Zettel, auf dem die Kinder dann ausfüllen müssen, 1. Welche Regel habe ich gebrochen?, 2. Warum habe ich sie gebrochen? und 3. (Warum) ist diese Regel sinnvoll?
So ist auch die Möglichkeit gegeben, gegen eine Regel zu argumentieren. Ich ermutige die Kinder auch immer über unseren Kinderrat die unsinnigen Regeln zur Diskussion zu stellen.
Glücklich bin ich aber mit diesem System nicht.
Zwar ist es darauf angelegt, dass die Kinder ihren Regelverstoß reflektieren, allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass dies immer funktioniert. Vor allem die Kinder, denen es schwer fällt, sich an Regeln wie "andere nicht beleidigen" zu halten schreiben oft beim zweiten Punkt "Weiß nicht."
Das glaube ich ihnen sogar. Was bei mir gut hilft, sind zwei Dinge, vielleicht kannst du damit mehr anfangen als mit dem ersten System:
1. Strukturen schaffen, die es den Kindern ermöglichen, sich an Regeln zu halten.
D.h. einerseits, Regeln mit den Kinder zu entwicklen anstatt sie zu diktieren. Andererseits heißt das aber auch, Regeln zu finden, die nicht den Bedürfnissen der Kinder entgegenlaufen (es ist kein kindliches Bedürfnis laut, faul und gewalttätig zu sein, solche Kinder sind desorientiert).
So hatten wir z.B. die Regel, das im Schulhaus generell nicht gerannt wird. Zu beobachten war, dass sich die Kinder vormittags und die Erwachsenen sobald die Kinder aus dem Haus waren nicht dran halten konnten. Jetzt haben wir verkehrsberuhigte Zonen, in denen nicht gerannt wird, weil andere dort arbeiten wollen. Ich glaube, dass die Kinder das verstehen.
2. Verantwortung abgeben.
Es ist immer wieder erstaunlich zu erleben, dass gerade die Kinder, denen es schwerfällt bestimmte Reglen einzuhalten (etwa nicht dazwischenrufen, wenn jemand redet) sich unglaublich engagiert und reif zeigen, wenn man ihnen die Verantwortung überträgt, eben auf die Einhaltung dieser Regel zu achten. Allerdings muss das Kind auch spüren, dass es sich nicht um einen unnötigen Posten handelt, sondern es muss auch etwas tun können (was kann dann wieder im Kinderrat beschlossen werden).

Interessant ist zu dieser Thematik das Kapitel "Verantwortung" in M.Spitzers "Lernen", wo er argumentiert, dass man verantwortungsbewusst nur wird, wenn man Verantwortung hat.

Hoffe ich konnte dir ein bisschen helfen.

Christian


Geschrieben von Juergen am 01.11.2007 um 18:21:

Hi Jule,

Das Problem ist, das Regeln in der regel nicht von den Kindern selbst entwickelt und beschlossen werden.

In dem Buch 'Kinderrepubliken' von Kamp http://paed.com/kinder wird sehr deutlich, daß Kinder und Jugendliche selbst vereinbarte Regeln ganz anders wahrnehmen. Trotzdem gibt es weiterhin Regelverstöße.
Kamp zeigt auf, daß es auch in Kinderselbstregierungen eine Stelle geben muß,
wo Regelverstöße besprochen werden können. Besonders effektiv ist das, wenn das von Kindern selbst gemacht wird. Bei Kamp ausführlich beschrieben.

Christian schreibt leider nicht, wie das an seiner Schule geregelt ist.

Wer legt die Regeln fest?
Wer wacht über die Einhaltung der Regeln?
Wer stellt fest, ob Regeln verletzt wurden?
Wer legt die Sanktionen fest (auch wenn es nur Karten sind)?
Wer setzt die Sanktionen durch?

In den von Kamp beschriebenen Kinderrepubliken und z.B. auch in Summerhill ist das (weitgehend) die Gemeinschaft der Kinder selbst. Ausnahmen in Summerhill, z.B. betreffend das Schwimmbad oder das Klettern auf dem Dach, werden auch klar als solche gekennzeichnet.

Bei der Beleidigung fragt sich, wenn den Kindern das schwer fällt, warum dann diese Regel überhaupt besteht. Wenn es den Kindern wichtig ist, dann o.k., wenn es den Erwachsenen wichtig ist, dann müßten sie die Regeln mit den Kindern beschließen, wobei die Kinder - weil in der Mehrzahl - die Erwachsenen auch überstimmen können.

Und was ist denn nun, wenn die Kinder eine Regel unsinnig finden. In Summerhill wird die Regel dann gnadenlos gekippt. Z.B. die Bettgehzeiten sind Regeln, die immer wieder gekippt werden, bis die Kinder selbst neue aufstellen.

Wenn weitere Fragen sind, stehe ich gerne zur Verfügung.
Liebe Grüße

Jürgen

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Jürgen Göndör
service@paed.com
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Geschrieben von Chris McFaz am 04.11.2007 um 14:27:

Kompromisse

Hallo zusammen!

Was ich für unsere Schule beschrieben habe sind wie erwähnt Kompromisse zwischen den Lehrern. Dadurch sind viele Regeln natürlich auch von Lehrern bestimmt, was ich persönlich für nicht optimal halte, es sei denn, es sind solche Regeln wie eben in Summerhill das Essen o.ä. wo dann aber von vorneherein klar ist, dass die Erwachsenen bestimmen. Zu deinen Fragen Jürgen:
Wer legt die Regeln fest?
In bestimmten Bereichen die Kinder, in bestimmten Bereichen die Erwachsenen. So gilt etwa die Regel, dass niemand beim Lernen gestört werden darf, ohne dass jemals ein Kind zugestimmt hat.
Wer wacht über die Einhaltung der Regeln?
Chefs im Sinne Reichens und die Lehrer.
Wer stellt fest, ob Regeln verletzt wurden?
Ebenfalls wie oben.
Wer legt die Sanktionen fest (auch wenn es nur Karten sind)?
Die jeweiligen Chefs zusammen mit einem Lehrer.
Wer setzt die Sanktionen durch?
Die Lehrer.

Wie gesagt ist das System ein Kompromiss und ich bin mir nicht sicher, ob es gewinnbringender für die Kinder und das Lernen ist, wenn man es so handhabt, aber ich habe den Eindruck, dass je mehr man Verantwortung an die Kinder abgibt, sie um so verantwortlicher werden.

Liebe Grüße

Christian


Geschrieben von Juergen am 09.11.2007 um 13:28:

Hi Christian,

das ist ja genau das was ich meine. Auch wenn die Regeln sinnvoll sein mögen, bzw. die Kinder das zunächst akzeptieren, entsteht daraus ein Gefälle in dem Umgang mit den Kindern, welches der Demokratie abträglich ist.

Die Kinder erleben es als 'die da' und versuchen wahrscheinlich die regeln zu umgehen, auszutesten, wie weit sie gehen können, mit Forderungen nach Gerechtigkeit: Der darf aber! Und die Sanktionen werden unter der Hand zu einer Währung, einer Strafe, die ich in Kauf nehme, wenn ich eine Regel nicht einhalte.

In einer selbstregulierten Gruppe - um Neills Begriff zu benutzen - werden die Regeln von den Kindern selbst beschlossen und abgeschafft. Bei Regelverletzungen ist es dann ein Verstoß gegen die eigenen Beschlüsse: Es geschieht was ich und die anderen wollen, nicht das was wir machen müssen.
Und wenn ein Schüler über solche Regeln wacht, die nicht die Regeln der Klasse sind, dann kommt er zwangsläufig in die Situation zu denunzieren. Das ist hart gesagt, trifft aber des Pudels Kern. Mir geht es nicht um billige Lehrerschelte, sondern um die Konsequenzen aus dieser Handhabung.

Man kann natürlich auch argumentieren, daß er so die Regeln einschätzen lernt und so selbst ein intern gültiges Regelwerk aufbaut: Das ist wichtig, das ist nicht soo wichtig.

Geht natürlich auch, aber hat m.E. auch den falschen Lernertrag.

Ich meine auch, daß fruchtlose Sanktionen wieder vor die Gruppe gebracht werden sollten.

Nochmal, es geht mir nicht um Kritik an Dir oder Eurem Kollegium!

Jürgen

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Jürgen Göndör
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Geschrieben von Chris McFaz am 09.11.2007 um 15:19:

Angriffe

Hallo Jürgen,

ich habe deinen Beitrag nicht als Angriff verstanden, ich bin eigentlich 100% deiner Meinung, ich sage ja, dass da ein Kompromiss im Kollegium ist, hinter dem ich nicht ganz stehen kann.
Was mich im Moment umtreibt ist die Frage, ab wann ich eingreifen muss und dadurch eine im Prinzip unnatürliche Situation schaffe. Konkret geht's mir um gewaltsame Angriffe. Bei Streit ok, da sag ich den Kindern, sie sollen das unter sich ausmachen, das geht mich nichts an.
Wenn aber Kinder richtig verprügelt werden von einem anderen Kind, da frage ich mich halt, was tue ich, wenn ich dazu komme, und was, wenn sich viele andere Kinder beschweren.

Liebe Grüße

Christian


Geschrieben von Juergen am 09.11.2007 um 23:29:

Hi Christian,

der Rolf Robischon hat da eine einfache Regel gehabt: Man darf sich nicht weh tun.

Das ist natürlich eine heikle Angelegenheit, weil Kinder auch gerne rangeln. Vielleicht kann man dann auch ein anderes Kräftemessen (Armdrücken, Ringen unter Aufsicht und mit Regeln) vorschlagen?

Irgendwie scheint das ja zusammenzuhängen: prügelnde Kinder (jetzt müssen sie doch was machen) und die von Dir angesprochene unnatürliche Situation, die ihr nicht schaffen wollt.

Vielleicht kann man mit den Kids darüber reden, wie in solchen Fällen gehandelt werden soll - natürlich nicht dann, wenn es gerade hoch her geht. Vielleicht so, daß auch die stilleren eine Chance haben und ihre Meinung öffentlich wird: Stummes Schreibgespräch aus der Freinet-Pädagogik.

Ich glaube, da braucht es viel zuhören um herauszufinden und selbst herausfinden zu lassen, um was es eigentlich geht.

Jürgen

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Jürgen Göndör
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Geschrieben von Jule am 09.02.2008 um 23:50:

Hallo ihr beiden,

vielen Dank für Eure Beiträge.
Ich fragte, weil mir in fast allen Klassen, in die ich mal so reingeschaut habe, oft eine eher nörgelige Atmosphäre begegnete. Die Lehrperson war oft zu einem überwiegenden Teil der Zeit damit beschäftigt darauf hinzuweisen, welche Regeln gerade nicht eingehalten werden oder eingehalten werden müssen, was als nächstes zu tun ist, nicht erlaubt ist etc. Sehr lehrerzentriert, auch wenn das Lernumfeld manchmal auf den ersten Blick eher schülerzentriert wirkte.

Ich suche immernoch nach Werkzeugen anders miteinander umzugehen - ohne Konflikte auszublenden. Es kann ja ruhig mal hoch hergehen wenn ein Konflikt auftaucht.
Aber ich würde mir irgendwie eine respektvolle, wertschätzende Grundatmosphäre wünschen.

Die Versammlungen sind ja eine gute Plattform sich über das Zusammenleben auszutauschen.
Welche Werkzeuge gäbe es noch eine demokratische, respektvolle Atmosphäre zu stärken?

Was haltet ihr von der gewaltfreien Kommunikation als EIN (WEITERES) MÖGLICHES Instrument im Umgang miteinander? Etwas psychologisierend in der Sprache, aber vielleicht nicht SO schlecht. Vielleicht könnte man den Schülern dieses Konzept vorstellen und darüber abstimmen lassen, obs für sie was ist! ?
Oder habt ihr da andere Ideen?

Danke Jürgen für den Link zu 'Kinderrepubliken'. Klingt gut. Wenn ich Zeit finde, schaue ich da mal genauer rein.


...Im letzten halben Jahr habe ich Praktika an 'eher freieren Schulen' gemacht und auch da ist mir aufgefallen, dass die Organisation des Zusammenlebens doch hauptsächlich in der Hand des Lehrers lag.

Nun wollte ich nochmal nachhaken was die Lehrerrolle alà Peschel Eurer Meinung nach genau ausmacht?

Ich verstehe ihn so, dass der Lehrer innerhalb der Gemeinschaft eigentlich keine Sonderrolle einnimmt, sondern eben genauso stimmberechtigt ist wie alle anderen der Klassengemeinschaft.

Was die Lernorganisation angeht nimmt die Lehrkraft schon eine andere Rolle ein (, oder?) [Lernumgebung bereitstellen, Lernmaterialien organisieren etc.]

Falls es jemand in seinen Worten auf den Punkt bringen kann, inwiefern sich die Rolle der Lehrerin nach Peschel von der Rolle der Schüler unterscheidet bzw. mit ihr übereinstimmt - würde mir das sehr helfen mir selbst darüber noch mal klarer zu werden.

Lieben Gruß

Jule


Geschrieben von Chris McFaz am 12.02.2008 um 21:23:

Hallo Jule,

puh, da hast du aber eine Menge geschrieben. Ich will mal nur auf die letzte Frage antworten, über alles andere muss ich noch ein bisschen nachdenken.

Meiner Meinung nach unterscheiden sich im Idealfall die LehrerInnen im Offenen Unterricht nicht, was die soziale und die persönliche Ebene angeht. Während der Lernzeit wird die Lernbegleitung ein mögliches Lernmittel unter vielen. Ihr Ziel ist nicht primär selber zu lernen (obwohl das ein netter Seiteneffekt ist), sondern den anderen beim Lernen zu helfen. Ziemlich platte Erkenntnis, hmm?
Aus Peschels Büchern kann man aber recht gut rauslesen, was der Lehrer tut. Wenn du mal zuschauen willst, gibt es auch noch die Doku des WDR "Ich lerne, was ich will" Der Mitschnittservice stellt sie zur Verfügung, allerdings kostet sie 46€ oder so.

So weit so gut, liebe Grüße

Christian

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