PAED.COM (http://www.paed.com/wbboard/index.php)
- Reformpädagogik (http://www.paed.com/wbboard/board.php?boardid=4)
-- offener Unterricht (http://www.paed.com/wbboard/board.php?boardid=22)
--- wohnortnahe integration und offener unterricht (http://www.paed.com/wbboard/threadid.php?threadid=245)


Geschrieben von Schnina am 17.02.2009 um 17:07:

wohnortnahe integration und offener unterricht

hallo,

bei der vorbereitung auf meine schriftliche prüfung für das thema "grundschule - förderschule" bin ich auf folgendes problem gestoßen:
für mich hat es eine große logik, alle kinder eines wohnortes gemeinsam zu beschulen. d.h. keinerlei aussonderung. da wir uns in einer heterogenen gesellschaft bewegen, ist es sinnvoll, dass sich diese gesellschaft auch in der schule widerspigelt. es ist auch klar, dass in einer solchen schule binnendifferenziert gelernt werden sollte und zielgleiches lernen nicht möglich ist.
offener unterricht im sinne falko peschels ist für mich ein vorhaben, dass sich lohnt umzusetzen. in seinem aufsatz "offener unterricht ist präventiver unterricht - präventiver unterricht ist offener unterricht" beschreibt er, dass viele kinder erst zu behinderten gemacht werden, da sie in einem normalen unterricht herausfallen.
offener unterricht scheint ein ansatz zu sein, der sich auch im fall "wohnortnaher integration" für viele schüler eignet, die unter die bezeichnung "behindert" fallen.
allerdings stoße ich hierbei an eine grenze: wie lässt sich "offener unterricht in einer lerngemeinschaft praktizieren, in der kinder an einer - nennen wir sie mal so - offentsichtlichen behinderung "leiden".
ist es möglich, z.b. blinden oder gehörlosen schülern einen offenen unterricht zukommen zu lassen? wie könnte so etwas aussehen?
noch schwieriger erscheint mir, wie man schwer mehrfach behinderte kinder in einen solchen unterricht aufnehmen kann. muss ich für solche kinder nicht speziell für sie aufbearbeitete materialien zu verfügung stellen? wie kann ich verhindern, dass solche kinder nicht nur mitgeschleppt werden? verletze ich durch speziell für sie aufgearbeitete materialien das prinzip des offenen unterrichts?
der angesprochene binnendifferenzierte, zielungleiche unterricht scheint mir geeignet für kinder jeglicher behinderung. wie aber kann ich kinder in eine schule integrieren, in der die die schüler selbstgesteuert lernen, wenn die schüler aber ihre eigenen bedürfnisse nicht selbt formulieren können bzw. jemanden brauchen, der für ihre bedürfnisse einsteht? ist es falsch, dass ich davon ausgehe,dass solche kinder jemanden brauchen, der ihre bedürfnisse für sie formuliert, da diese formulierung vielleicht nur vermutete bedürfnisse sind?

ihr seht: fragen über fragen. ich hoffe, dass mir jemand die annäherung an antworten erleichtern kann. vielleicht aus eigener praxis.

viele grüße, nina


Geschrieben von Juergen am 18.02.2009 um 00:31:

Hi Nina,

Vielen Dank für Deine Mail - ich will eine Antwort versuchen.

In Peschels Klasse waren keine behinderten Kinder (blind, ..). Allerdings sind behinderte Kinder zunächst auch Kinder, die sich in der Welt zurecht finden müssen, die die Welt für sich entdecken müssen, für sich konstruieren müssen. Aus ihren Erfahrungen mit der Welt.

Nun nützt es natürlich wenig, wenn Du blinden Kindern einen PC zur Verfügung stellst. Du brauchst dann schon die entsprechenden Hilfsmittel, die das surfen im Internet auch Blinden ermöglicht und Du solltest da wirklich Erfahrung mit haben - um zu verstehen, was für Schwierigkeiten da auftreten und zu überwinden sind.

Grundsätzlich haben natürlich auch solche Kinder vieles was sie lernen wollen, wissen wollen - und warum soll es nicht möglich sein, ihnen es zu ermöglichen, genau das zu lernen, was ihnen wichtig ist? Sie genauso zu unterstützen, ihre Vorhaben zu verwirklichen. Das gilt wahrscheinlich auch prinzipiell für mehrfachbehinderte Kinder.

Wenn ein Mensch nicht in die Möglichkeit hat, seine eigenen Bedürfnisse zu formulieren, sind sicher therapeutisch Fähigkeiten - z.B. nicht direktive Gesprächstherapie (Rogers) - nötig, um mit ihnen daran zu arbeiten, genau diese Arbeit zu leisten. Sicherlich niemand, der stellvertretend für sie Bedürfnisse formuliert. Auch mit Bedürfnissen die viele haben ist nicht zu arbeiten, weil es ja immer um dieses individuelle Kind geht. Es muss dem Kind schon geholfen werden, die eigenen Bedürfnisse irgendwie selbst konkret zu kommunizieren - es gibt immer nur einen Menschen, der wirklich sagen kann, was er will und was nicht: er selbst.

Was meinst Du mit binnendifferenziert? Vom Sprachgebrauch her ist binnendifferenziertes Lernen auch vom Lehrer her geplant und auf die vermutete Lernsituation des Kindes hin zugeschnitten. Dagegen: Selbstgesteuert ist Lernen ist Lernen des Kindes in seiner tatsächliche Situation üfr die eigenen Bedürfnisse, das Kind arbeitet selbst und wählt für sich aus. Es stellen sich wohl andere Anforderungen an die LehrerIn, dieses Kind zu begleiten.

Was bei Peschel wenig herauskommt, ist seine Leistung, sich wirklich voll auf diese Kinder einzustellen und ihnen zu helfen, sich selbst klar darüber zu werden, was sie wollen und das dann auch umzusetzen und ihnen individuell dabei behilflich zu sein.

Erfahrungsgemäß verhalten sich Kinder im Umgang mit behinderten Kindern sehr einfühlsam - obwohl es auch (nach meiner Auffassung) Grenzen gibt: wieviel andere Kinder das behinderte Kind verträgt, wieviel Behinderung die Lehrerhin verkraften kann. Hilfe wird wahrscheinlich notwendig sein. Zumindest als Coaching oder Supervision, oder/und auch in der Situation mit den behinderten Kindern - zumal wenn es mehrere sind und die möglicherweise auch noch mehrfach behindert sind.

Ob Materialien - was immer Du darunter verstehst - das Prinzip des Offenen Unterrichts verletzen kann nur so beantwortet werden: Erlaubt ist alles, was den Kindern hilft selbständiger zu werden und den Weg in die Welt mit immer weniger Hilfe zu gehen.
Offener Unterricht als Prinzip ist ein Sebstmissverständnis.
An allererster Stelle stehen die agierenden Menschen: Kinder und Lehrer (ohne daraus eine Reihenfolge zu machen).

Vom sprachlichen klingt in meinen Ohren ein binnendifferenzierter, zielungleicher Unterricht nicht nach Offenem Unterricht und nicht Du sollst die Kinder integrieren - das müssen sie schon selbst tun. Du kannst sie dabei auch unterstützen - ohne sie zu führen, ohne sie von Deiner Hilfe abhängig zu machen. Hilfe ist immer Hilfe zur Selbsthilfe.
Auch eine Therapie sollte ja nicht ein Prinzip verwirklichen, sondern für die Klienten hilfreich sein. Genauso muss ein Offener Unterricht für die Kinder hilfreich sein. Auch wenn es um Integration geht.

Behindert wird man gemacht. Weil man seine Verantwortung abgibt, sich auf Hilfe von außen verläßt und es aufgibt, selbst tätig zu werden.

Ich hoffe etwas zu der erhofften Annäherung an Antworten beigetragen zu haben.

Florian Felten arbeitet mit behinderten Kindern, ein Gespräch mit ihm findest Du auf der Homepage, seine E-Mail-Adresse steht dabei. Schön wäre aber das Thema hier weiter zu diskutieren. Seine Examensarbeit auch.

Ich stehe - so gut ich kann - gerne auch weiterhin zur Verfügung.

Liebe Grüße

Jürgen Göndör

__________________
Jürgen Göndör
service@paed.com
http://paed.com


Geschrieben von Chris McFaz am 23.02.2009 um 11:01:

Wohnorte

Hallo Nina, hallo Jürgen,

ich sehe das auch so wie du Jürgen: Kinder haben unterschiedliche Bedürfnisse, manche besondere, andere solche, die immer wieder auftauchen, weil unsere Welt auch auf diese Bedürfnisse zugeschnitten ist. Die entscheidende Frage ist sicherlich, was ein Lehrer leisten kann und wie die Umgebung gestaltet ist, also ob sie auch Menschen mit Beinträchtigungen ihrer Sinne eine Möglichkeit zur selbsttätigen Auseinandersetzung mit ihr bietet. Eine Hilfskraft kann sicherlich viel Gutes tun, wenn sie mit der richtigen Einstellung dabei ist.

Gerne wollte ich aber noch etwas bezüglich der Wohnortfrage loswerden. Natürlich ist es dann sinnvoll, alle Kinder in eine Schule gehen zu lassen, wenn es sich bei der Wohngegend tatsächlich um eine heterogene Gemeinschaft handelt. Schwierig wird es in Gegenden, in denen die Menschen im Einzugsgebiet der Schulen verschiedene (soziologische) Merkmale teilen. Etwa niedrigen/hohen sozialen Status, Immigrationshintergrund oder Religion.
Dadurch entsteht für mich die Gefahr der Abschottung nach Außen mit allen damit zusammenhängenden Konsequenzen. Etwa geschlossene Kreisläufe (Wissen, Einstellungen, Verhaltensweisen...), Xenophobie, elitäres Denken...
Sicherlich ist das aber primär schon ein Problem der Städteplanung, nicht erst der Schulen. Mir fiel es eben ein, weil es ja keine freie Schulwahl gibt, sondern die nächstgelegene Schule besucht werden muss.

Gruß

Christian

Powered by: Burning Board Lite 1.0.2 © 2001-2004 WoltLab GmbH