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Gemeinschafts- und Versuchsschulen in Hamburg

Lichtwarkschule - VS Berliner Tor - VS Breitenfeldstraße - VS Telemann Straße - VS Tiloh Süd - Heimschule Bergedorf - weitere Gemeinschaftsschulen - politische Situation
'Am 12. November 1918, nur sechs Tage, nachdem ein Arbeiter- und Soldatenrat auch in Hamburg die alten Machtverhältnisse für beendet erklärt hatten, kamen im Curio-Haus, dem Vereinshaus der in der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens organisierten Lehrerschaft, nahezu 3000 Lehrerinnen und Lehrer zusammen um ihre schulpolitischen Forderungen an die neue Republik zu artikulieren.'

Es sind bekannte Schulreformer anwesend: William Lottig, Heinrich Wolgast, Carl Götze, Wilhelm Paulsen, Hermann Leo Köster, Fritz von Borstel, Max Tepp, Friedrich Schlünz, Fritz Jöde, Otto Ernst, ...

Die erhobenen Forderungen, die schon im Kaiserreich - erfolglos - vertreten worden waren, haben nun Chancen auf Umsetzung:
  1. ein Reichsschulgesetz
  2. die Einheitsschule
  3. Selbstverwaltung der Schule unter Beteiligung der Eltern
  4. Glaubens- und Gewissensfreiheit für jedes Kind
Die Oberschulbehörde in Hamburg wollte Schulen 'als Ort eines kontrollierten methodischen Experiments', angebunden an die allgemeinen Lehrziele. Die Lehrer wollten kindgemäßes und praktisches Lernen im demokratischen Miteinander von Schülern, Lehrern und Eltern.

Die Macht der Oberschulbehörde in dieser Zeit war gering und so hatten die vier Hamburger Versuchsschulen einen 'fast uneingeschränkten Freiraum für ihre pädagogische Arbeit'.

Es handelt sich um die Schulen:
  • Versuchsschule am Berliner Tor - Hamburg-St. Georg
  • Versuchsschule an der Telemannstraße - Hamburg-Eimsbüttel
  • Versuchsschule Breitenfelder Straße - Hamburg-Eppendorf (Wendeschule)
  • Versuchsschule Tieloh-Süd - Hamburg-Barmbeck
Die einzige höhere Schule war die Lichtwarkschule am Stadtpark.

Die Versuchsschule gibt es nicht, nur Schulen mit eigenem Profil. Gemeinsam war allen Schulen:
  • keine Bindung an offizielle Lehrpläne
  • freie Wahl des Kollegiums
  • Aufnahme von Schülern aus allen Stadtgebieten
  • Koedukation
  • Verzicht auf die Prügelstrafe
  • Verzicht auf das Sitzenbleiben
  • Gesamtunterricht in der Primarstufe
  • ganzheitliches Lernen: Kopf, Herz und Hand
  • besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Schülern, Lehrern und Eltern
  • Zusammenführung aller Beteiligten zur Schulgemeinde
  • Ausweitung der Schule zu einer Lebensstätte der Jugend
Die radikalste Umsetzung wurde an der Schule am Berliner Tor gewagt. Schulleiter ist W. Lottig. Da aber die Erfahrung im Umgang mit dieser Situation fehlte - sowohl auf der Seite der Lehrer: sie wissen nicht, wie eine durchgängig produktive Lernatmosphäre hergestellt wird, als auch auf Seiten der Eltern: sie legen einfach die alten Leistungsmaßstäbe an - gehen die Anmeldezahlen so zurück, daß 1930 keine Erstklässler mehr eingeschult werden können. 1933 wird die Schule von den Nationalsozialisten geschlossen.

An der Wendeschule in der Breitenfelder Straße geht man ganz ähnliche Wege. Sie sieht ihre Wurzeln allerdings in der Jugendbewegung (Rödler). Der steht allerdings die knappe Staatskasse entgegen. Die Arbeitsmittel für die Werkstätten fehlen und damit ist die Konzeption gefährdet. Jöde und Tepp (von dem C. Freinet ein Buch übersetzt und in Frankreich herausgibt) verlassen die Schule und gründen den Wendehof, eine sich selbst versorgende Wirtschaftsgemeinschaft mit Eltern. Das Experiment scheitert nach 5 Monaten. Weitere Kollegen verlassen die Schule. Kurt Zeidler wird zum Schulleiter gewählt. 1930 gibt die Schule den Status Versuchsschule zurück, ohne jedoch den eingeschlagenen Reformweg aufzugeben.

In der Versuchsschule Telemann Straße ist Carl Götze, der mit Alfred Lichtwark Initiator der Kunsterziehungsbewegung war, erster Schulleiter. Diese Versuchschule ist wohl die erfolgreichste Versuchsschule. Dort unterrichtet Carl Friedrich Wagner und betreibt einen sehr ambitionierten Deutschunterricht und organisiert das Theaterleben. In der Anfangsphase hat die Schule ihre Stärke in der Methodik der einzelnen Unterrichtsfächer (Rödler). Man experimentierte in Gemeinschaftsstunden mit einem Schülerparlament, die Schülerselbstverwaltung ist wichtigste Aufgabe des Kollegiums. Statt einer Leistungsbeurteilung wurden die Kräfte gefördert, die im Kind steckten: 'Sobald nicht mehr der Lehrstoff, sondern das Kind im Mittelpunkt stand, mußte das Ziffernzeugnis dem Bericht, der Charakteristik weichen.' Diese Schule hält zwar am Klassenprinzip, am Stundentakt und am Fachunterricht fest, allerdings wird der gesamte Unterricht in Bezug auf Schülerselbsttätigkeit und nach arbeitsunterrichtlichen Gedanken neu gestaltet. In höheren Klassen gibt es fachübergreifende Projekte. Nach Schüler-Interessen bieten Lehrer zusätzlich Wahlkurse an.
Rezension zu Klenner, A.: Leben und Werk des Lehrers Carl Friedrich Wagner (Diss), Hamburg, 2003

In der Schule in Tiloh-Süd sind Wilhelm Paulsen und Nicolaus Henningsen erste Schulleiter. Weitere Reformpädagogen sind Wilhelm Lamszus und Julchen Möller-Bloom. Damit sind Exponenten für Deutsch (Lamszus), Geschichte (Henningsen) und Englisch (Möller-Bloom) an der Schule, andererseits ist der Ansatz Paulsens durch und durch schulrevolutionär (Röder).

In der Wirtschaftskrise 1923/24 und 1929 fühlten sich die Schulen auch für das materielle außerschulische Leben der Kinder verantwortlich. Es werden für Schüler Kleidung und Schuhe gesammelt und von den Eltern in Ordnung gebracht. Für die Kinder arbeitsloser Eltern (80-90 Kinder) wird eine Schulspeisung organisiert oder von bessergestellten Eltern beköstigt (weitere 70-80 Kinder) Die Schulgemeinschaft ist tatsächlich eine Lebensgemeinschaft.

Die Heimschule Bergeddorf entsteht 1919 und wird von August E. Krohn gegründet. Im Umfeld dieser Schulen entstehen weitere 7 Gemeinschaftsschulen, die sich - mit den anderen genannten Schulen, zur Hamburgischen Schulengemeinschaft zusammenschließen:
  • Volksschule Hopfenstraße 30
  • Siedlungsschule Langenhorn, Humboldtstraße 30a
  • Volksschule Schillersstraße 31
  • Volksschule Bellbrookdeich 75a
  • Volksschule Methfesselstraße 28
  • Volksschule Burgstraße
  • Schule am Duisberg Ahrensburgerstraße

Diese Schulen haben keinen Versuchsschulstatus, sie sind an die normalen Lehrziele gebunden. damit ist die Entwicklung des Gemeinschaftsgedankens aus dem Schulorganismus heraus stark eingeschränkt.

Eine besondere Rolle hat die Lichtwarkschule, eine der wenigen höheren reformpädagogisch beeinflussten Schulen (Einheitsschule von Fritz Karsen, Berlin; Schulfarm Insel Scharfenberg unter Wilhelm Blume, Berlin, Berthold-Otto-Schule in Magdeburg und die Domschule in Lübeck.

1920 ist Peter Petersen dort Schulleiter und beantragt den Schulnamen: Lichtwarkschule. Allerdings übernimmt Petersen schon 1913 einen Ruf an die Universität von Jena. Er führt das Kurssystem ein - ab Klasse 10 gibt es ein verbindliches Angebot, den Kernunterricht mit Kursangeboten die nach freier Wahl belegt werden - das aber wieder abgeschafft wird, weil man der Meinung ist, der Klassenzusammenhalt sei gefährdet. Es bleibt die vielfältige Umsetzung des Gedankens der Schulgemeinschaft: Klassenfahrten, Schulfeiern, gemeinsame ausserunterrichtliche Tätigkeiten. Das demokratische Miteinander zwischen Schülern und Lehrern ist das geeignete 'Mittel, den organisatorischen Aufbau der Gesamtheit der Schule als Erziehungs- und jugendliche Lebensgemeinschaft zu vollenden. Der Unterricht ist arbeitsschulmäßig gestaltet: 'Das Kollegium verstand darunter insbesondere die Ausbildung der manuellen und künstlerisch-musischen Fähigkeiten der Schüler sowie die selbstständige Erarbeitung aller Unterrichtsgegenstände. Die Schüler sollten möglichst die Arbeit des Forschers, Gestalters und Erfinders im kleinen wiederholen um auf diese Weise [...] die Kulturkräfte in Wissenschaft, Kunst und Technik in unserer Jugend bewußt und lebendig werden zu lassen.'

Politische Situation

Ein wichtiger Punkt in der Entwicklung der Schulen ist die politische Diskussion. Die KPD agiert im Frühjahr 1926 sehr heftig gegen die Gemeinschaftsschulen und tragen diese politische Auseinandersetzung auch in die Schulen. Ihr sind die Gemeinschaftsschulen SPD-Parteischulen - ein Begriff, den sowohl linke wie rechte Presseorgane in Hamburg benutzten. 'Unter dem Druck von Oberschulbehörde und des kapitalistischen Staates habe man die ursprünglichen Vorstellungen einer freieren Erziehung über Bord werfen müssen. [...] die Verwirklichung unserer Ziele (können) erst in einem Sowjetdeutschland durchgeführt werden'. An der Telemannstraße spitzt sich der Konflikt dramatisch zu: Elf Schüler werden Zwangsumgesetzt, kommunistische Eltern vor der Schule verhaftet. R. Lehberger zitiert: 'Ja man wusste, dass in dem Augenblick, da die Reaktion (politisch, R.L.) die Zügel ergreift, wird die Knebelung der neuen Schulen beginnen.'

In der Tat wird 1933 den Schulen der Versuchsschulstatus entzogen, die Schulleiter ihrer Ämter enthoben, zahlreiche Kollegen zwangsversetzt oder fristlos entlassen, die Koedukation beendet und der traditionelle Fachunterricht wieder eingeführt. Die Lichtwarkschule wird 1937 ganz aufgelöst, weil sie trotz aller Maßnahmen 'nicht zufriedenstellend gleichzuschalten' ist.

Quelle: Lehberger, Rainer: Schule als Lebensstätte der Jugend - Die Hamburger Versuchs- und Gemeinschaftsschulen in der Weimarer Republik, in: U. Amelung, D. Haubfleisch, J.-W. Link, H. Schmidt: Die alte Schule überwinden, FfM, 1992, S. 32-64 und
Rödler, Klaus: Vergessene Alternativ-Schulen - Geschichte und Praxis der Hamburger Gemeinschaftsschulen 1919 - 1933, Weinheim, München, 1987 (Diss)


Literatur:

Buch bestellen:
Leben und Werk C.F.Wagner
Versuchsschule Telemannstr. 10


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