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Reformschulen in Chemnitz


Versuchsschulklassen - Humboldtschule - Bernsdorfer-Schule - Chemnitzer Lehrerverein



Chemnitz: VS Humboldtschule


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Die Chemnitzer Reformpädagogen konnten 1920 unmittelbar an ihre sehr erfolgreiche Arbeit mit sieben Versuchs- und Elementarklassen von 1912-1914 anknüpfen. Das erfolgreiche Konzept war auf alle Chemnitzer Schulen ausgedehnt worden. (Pehnke, A., S. 19)

Die 'Arbeitsgemeinschaft für neue Erziehung' - gegründet 1920 - des Chemnitzer Lehrervereins - gegründet 1831 - forderte von der Stadt:
  1. Überlassung der Logenschule als vollausgebaute Versuchsschule
  2. Einrichtung eines Versuchsklassenzuges an der Bernsdorfer Schule M
  3. allmähliche Umgestaltung der Humboldtschule M., Chemnitz
Pädagogischer Grundsatz sollte sein:

Selbsttätigkeit der Kinder und Gemeinschaftsbildung.

Genehmigt wurden nur die Forderungen 2 und 3. 1921 begann der Schulversuch mit 22 Versuchsschullehrern und 2 -lehrerinnen in 22 Klassen unter folgenden Bedingungen:
  • Völlige Freiheit vom Lehrplan, Stundenplan Lehrziele (ausgenommen Rechnen)
  • Bindung an die allgemeingültige Stundenzahl für Lehrer und Schüler
  • Verpflichtung der Lehrer zu wöchentlich 2 Berichtsstunden, die in die Pflichtstundenzahl eingerechnet wurde mit der Abgabe von Arbeitsberichten
  • Aufrechterhaltung des Fachlehrersystems (S. 292)
Der Unterricht wurde zum Gesamtunterricht. Je nach Lehrer war er straff geplant oder ging völlig auf den jeweiligen Augenblick (Gelegenheitsunterricht) ein. Auch die Selbsttätigkeit wurde ganz verschieden gehandhabt: von der Bindung an gewählte Klassenarbeit, an Gruppenarbeit bis hin zu völliger Freiheit der einzelnen Schüler. Nur die allmähliche Umgestaltung von einer Schule mit planmäßiger Unterrichtszeit, Raummangel, Dem Fehlen von Werkräumen und einer Küche gestalteten sich sehr problematisch.

Es mussten die Eltern für die Pläne der Lehrerschaft gewonnen werden. Sie konnten dem Unterricht und auch den Lehrerversammlungen beiwohnen. Diese Offenheit wirkte sich positiv aus. Die Schülerschaft war proletarisch, aber auch bürgerlich. Von der bürgerlichen Seite begann schnell eine 'außerordentliche Hetze' - besonders von den christlichen Elternvereinen. Grund war, dass die Kirche die Konfirmation der Kinder ohne konfessionellen Religionsunterricht verweigerte. Als Folge wurden fast alle bürgerlichen Kinder abgemeldet. So wurde 1923 der Bezirkszwang aufgehoben. Das hatte zur Folge dass insbesondere 'Sitzenbleiber, schwer Erziehbare, in der (traditionellen) Schule Gescheiterte, und dort Unzufriedene, sittlich nicht einwandfreie angemeldet wurden. Der Ruf der Schule: 'Es kann jeder tun was er will, keine Schularbeiten, keine Prügel, kein Sitzenbleiben' lockte viele 'zweifelhafte' an und schreckte andere ab. Es gab jedoch keine Rohheiten gegenüber Lehrern, kaum gegen Mitschüler, keine Unfälle und nur in seltenen Fällen Diebstähle. (S. 294) Anfangs war belastend, dass die bürgerliche und pädagogische Öffentlichkeit die Schule mit Schimpfwörtern dachte: Freudenhaus, Trümmerhaufen, Versuchsquatsch, Humbugschule, Bordell, Irrenhaus. Das Kollegium hat beschlossen, das zu ignorieren, weil das Vorgehen dagegen mit Rechtsanwalt und Gericht eine starke Arbeitsbelastung bedeutet hätte. (S. 302)

Auch fand in der Lehrerschaft eine Abstimmung mit den Füßen statt: Es gingen die, die Wert auf straffe Zucht legten und es kamen solche, die mit der neuen Erziehung einverstanden waren. Ein Problem ergab sich aus der Tendenz, alle revolutionären Lehrer an einer Schule aufzunehmen und so auch zu isolieren. (S. 294)

Die Schule war von Anfang an in eine umfassende Demokratisierung einbezogen. 1923 wurde auch der Humboldtschulverein gegründet, dem neben den Versuchsschullehrern fast die gesamte Elternschaft und auch ehemalige Schüler angehörten. (Pehnke, A. S.20)

Eine deutliche Veränderung ergab die Auflösung der Klassenverbände. "Es gab ein Gehen von Zimmer zu Zimmer, Freundschaften zwischen Groß und Klein, Freundschaften ganzer Klassen. Es gab ein gegenseitiges Helfen in Nahrung und Kleidung. (S. 295)

Die Schule war ursprünglich eine Mädchenschule und im Rahmen der Koedukation wurden auch Knaben aufgenommen. Es gab reine Knaben und Mädchenklassen, meist aber gemischte Klassen. Die Altersmischung wurde ab Ostern 1924 eingeführt. Darüber gibt es noch keinen Erfahrungsbericht (S. 296).

Etwas Besonderes war auch die Einführung der 'freien Kurse'. Der Einführung von Begabtenklassen stand entgegen, dass dies nur ein Mäntelchen für die Wiederauferstehung der alten Standesschule war. (S. 296) Es zeigte sich, dass Begabung nicht hinreichend sicher erkannt werden konnte, sie war nicht messbar und so konnte man auch nicht nach Begabung sortieren. Unklar war auch, was Begabung überhaupt sein sollte. Es war nur klar, dass dann, wenn man dem Kinde die Wahl seiner Tätigkeiten überließ, sich schnell Stärken und Schwächen - Begabungen - herausstellten. "Größte Förderung der Begabung erfordert darum die Mischung der Altersstufen mindestens für den Neigungsunterricht." (S. 296)

Die freien Kurse fanden zweimal in der Woche mit jeweils 2 Stunden statt. Voraussetzung war, dass Lehrer zur Verfügung standen, die den Kurs geben konnten und dass sich genug SchülerInnen für einen Kurs fanden. Es gab freie Kurse zu folgenden Themen: Englisch, Esperanto, Stenographie, Algebra Gartenarbeit in Verbindung mit Biologie oder Physik, Gesang, Stimmbildung, Literatur, Vortrag, Nadelarbeit, Werkarbeit in Pappe und Holz, Schrift, rhythmische Gymnastik. Insgesamt 36 verschiedene Kurse. Ihre Dauer war meist jährig oder auch mehrjährig, aber auch kürzer. Dadurch dass die Kinder in Schulversammlungen viele Angelegenheiten selbst übernahmen, wuchsen Ruhe und Ordnung sichtlich. (S. 297)

Hemmend wirkten sich die traditionellen Schulbänke aus. Der Amtschimmel verhinderte eine zügige Neueinrichtung. Ohne Mithilfe der Eltern - auch finanziell - wäre vieles nicht möglich gewesen. Der Humboldtschulverein erleichterte die Mithilfe der Eltern. (S. 298)

Mit den für alle verbindlichen Kernkursen wurde dem Erfordernis der Gesellschaft Rechnung getragen, von jedem ein Mindestmaß von Kenntnissen zu erwarten.

Nach vier Jahren stellte das Kollegium fest:
    "Das Bewußtsein der Einheit von Körper und Seele ließ uns erkennen, daß hier überhaupt das Erziehungs- und Bildungproblem verwurzelt ist. Körperbildung geht nicht getrennt neben geistiger oder sittlicher her. Sondern sie ist der Anfang, Wurzel, ja Sinn jeder Erziehung und Bildung. Jede Körperbewegung ist seelischer Ausdruck. Tanz, Gebärden, Schrift, Zeichnung, Musik, Sprache sind in erster Linie Offenbarungen seelischer Inhalte. [...] Alle Erziehung hat sich nicht auf das geistige, sondern auf das körperliche (Bewegung im weitesten Sinne) zu gründen. [...] Sport, Tanz, Gymnastik [...] sind nicht nur Körperbildung neben geistiger, sondern Erziehung zu seelischem Ausdruck, damit Erziehung schlechthin." (S. 299)

    "Wenn der Gedanke der Einheit von Körper und Seele die Grundlage aller Erziehung darstellt, so wächst daraus als Forderung das Gestalten, d.h. Arbeit als Ausgangspunkt jeder Schulorganisation zu nehmen. Die Arbeit ist der Bildungsfaktor schlechthin." (S. 300)
Das bedeutet aber nichts anderes als die 'Produktionsschule' zu fordern und damit die Frage: "Gibt es Erziehung durch Arbeit innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung?" (S. 301)

Zur Arbeit gehört der Werkraum. Die Arbeit selbst kommt aus der Schularbeit: Bücher heften und binden, für die Räume Wandschmuck, Kästen und Rahmen; aus dem Schulleben: Dinge für die Verkaufsbude, für den Festzug und Märchendarstellungen, für die Weihnachtsmesse: Spielzeug, Bilderbücher, selbst gefertigte Kleidungsstücke, Gebrauchsgegenstände für den Haushalt. Die Werkarbeit besteht aus wirklicher Bestellung und wirklicher Lieferung: Badeanzüge, Wanderkittel, Trinkbecher, Spielzeug und Unterrichtsmittel.




Quellen:
  • Uhlig, Max (1924): Versuchsschule Humboldschule [sic!] M., Chemnitz, in: Hilker, Franz (1924): Deutsche Versuchsschulen, S. 292 - 302
  • Pehnke, Andreas 2004): Humboldtversuchsschule - eine zukunftsgerichtete Rückschau, in: Chemnitzer Roland, Heft 2/2004 S. 19 -24
Weitere Literatur:
  • Janka, W. (1991):Spuren eines Lebens
  • Pehnke, Andreas (1998): Sächsische Reformpädagogik, Traditionen und Perspektiven, Leipzig
  • ders. (2000, 2002): "Ich gehöre in die Partei des Kindes!" Der Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge Fritz Müller (1887-1968), Beucha
  • ders. (2002): Reformpädagogik aus Schülersicht. Dokumente eines spektakulären Chemnitzer Schulversuchs der Weimarer Republik, Baltmannsweiler
  • ders. (2003): Historische Erfahrungswerte im Umgang mit Heterogenität, in: journal für schulentwicklung 7/2003, S. 19 - 27